Briefe von zwei Freiheitskämpferinnen an ihre Familien
- Lêgerîn 2
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Faschismus hat nicht gestern erst begonnen und genau so ist es mit antifaschistischem Widerstand. Im gleichen Moment wie der moderne Faschismus, der in den 1920er Jahren in Form des Mussolini-Regimes aufgekommen ist, hat sich ein revolutionärer Widerstand entwickelt, der auf Menschlichkeit und dem freien Leben besteht. Jahrzehnte nach dem Partisanenkrieg, der zur Befreiung Italiens führte, ist der Faschismus wieder einmal im Aufschwung, in Europa und auf der ganzen Welt. Wenn wir ein paar hundert Kilometer östlich von Italien schauen, sehen wir, dass Faschismus auf dem Boden des türkischen Staats im gesamten 20. Jahrhundert niemals aufgehört hat, zu existieren. Der Faschismus heute existiert beständig im AKP-Regime unter der Führung von Erdoğan, auch wenn sich seine Form und Farbe ändern.
Aus dem Herzen des Widerstands gegen diese Unterdrückung teilen wir hier zwei Briefe mit euch, die von zwei jungen antifaschistischen Kämpferinnen an ihre jeweiligen Familien geschrieben wurden.
Anty, nom de guerre der 33 jährigen Irma Marchiani, hat sich im Frühling 1944 trotz ihres schlechten Gesundheitszustands nach Monaten der Arbeit als Kurierin und Informantin dem Matteotti-Batallion als Kämpferin angeschlossen. Immer bereit, das Leben ihrer GenossInnen zu verteidigen, wertgeschätzt und respektiert für ihren Wagemut, ihre Beharrlichkeit und ihre Empathie, wurde sie stellvertretende Leitung ihrer Division. Am 26. November 1944 wurde sie in Nazigefangenschaft zur Märtyrerin. Nichtsdestotrotz ist sie gefallen in Gewissheit über die Zukunft, in der ihr Bruder Pietro und ihre kleine Schwester Pally leben würden: in einer freien Heimat, auferstanden aus der faschistischen Schande.
Am 23. Oktober 2024, während der Krieg in allen Teilen Kurdistans anhielt, haben die PKK Guerilla-KämpferInnen Rojger Hêlîn und Asya Alî eine Aktion gegen TUSAŞ, eine Waffenfabrik des türkischen Staats, durchgeführt. Das Unternehmen ist verantwortlich für die Produktion von Drohnen, Helikoptern und Flugzeugen, die unmittelbar im Krieg gegen das kurdische Volk eingesetzt werden. Die zwei KämpferInnen haben die Aktion mit dem Wissen, dass sie dabei zu Märtyrern würden, durchgeführt, und vorher Briefe an ihre GenossInnen und ihre Familien geschrieben. Asya Alî ist 1989 geboren und als einzige Tochter einer Familie mit vier Kindern in Izmir aufgewachsen. Mehrere Jahrzehnte nach der italienischen Kämpferin Anty hat auch sie sich dem antifaschistischen Widerstand angeschlossen und für die Befreiung der Völker gekämpft. 2015 schloss sie sich der PKK und später dem ‘Şehîd Zilan-Battalion’ an, einer Einheit der Guerillakräfte die für ihre Aktionen der Selbstopferung bekannt ist.
Brief der italienischen Partisanin Anty:

Sestola, am 10. August 1944
Liebster Pietro, mein geliebter Bruder,
wegen dem, was ich heute tue, eine Aktion, die sich seit langer Zeit anbahnt, muss ich dir diese Zeilen schreiben. Ich bin mir sicher, dass du verstehen wirst, weil du den Willen, den ich besitze, sehr gut kennst. Ich folge meinem Denken und den Idealen, die vor langer Zeit unser eigener Großvater gefühlt hat. Ich bin schon jetzt Teil einer Formation, und mein Kommandant bringt mir wirklich großen Glauben und Vertrauen entgegen. Ich hoffe, von Nutzen zu sein; ich hoffe, dass ich meine Vorgesetzten nicht enttäuschen werde.
Meine Entscheidung überrascht dich gar nicht, oder? Ich bin sicher, dass es auch deine Entscheidung wäre, wenn dich nicht so viele Dinge angreifen würden. Naja, eine aus der Familie ist genug, und diese eine Person bin ich. Als ich einen Brief von Pally bekommen habe, nachdem ich sie hierhin eingeladen habe, hat sie mir ebenso geantwortet: „Welches Recht habe ich, der allgemeinen Gefahr zu entfliehen?“ Das ist wahr, aber ich bin hier nicht geblieben, um ruhig zu bleiben, sondern weil meine Seele und mein Herz dieses Dorf lieben.
Aber jetzt ist alles traurig, die Entwicklungen bedecken selbst die schönsten Dinge mit einem Schleier von Trauer. In meinem Herzen ist die Idee aufgeblüht, dass alle die Sache unterstützen müssen (was leider von zu wenigen geteilt wird). Diese Berufung ist etwas so starkes, etwas was ich so tief fühle, dass ich, nachdem ich ein paar Sachen geregelt habe, zufrieden gehen kann.
„Du hast etwas in den Augen, was mir sagt, dass du dazu in der Lage bist, zu führen“, hat mein Kommandant mir gesagt, „Dein Geist ist deine größte Auszeichnung; ich habe noch nie davon geträumt, eine Frau zu rekrutieren, aber bei dir schon“, und er hatte mich davor erst zweimal gesehen.
Wenn ich meine Pflicht erfülle, wenn das Schicksal mir das Geschenk das Lebens gibt, bin ich glücklich, wenn nicht, dann weint nicht um mich. Ich bitte euch nur um eine Sache: denkt nicht an mich als eine schlechte kleine Schwester. Ich bin ein Wesen der Aktion und mein Geist muss umherwandern; aber immer in die Richtung von hohen und schönen Idealen.
Du weißt sehr gut, mein liebster Bruder, dass unter meinem ruhigen (vielleicht stillen?) Ausdruck eine Seele verborgen ist, die danach strebt, etwas zu erreichen. Stille ist nichts für mich. Vielleicht haben die Jahre, die vergangen sind, meinen Körper beeinträchtigt, aber mein Wille war niemals regungslos. Gott vermacht, dass ich so bereit bin wie niemals zuvor.
Denk an mich, lieber Pietro, und gib mir deinen Segen. Ich weiß, dass du jetzt in Gefahr bist, aber das ist schließlich in diesen Zeiten überall der Fall.
Also grüße ich dich und küsse dich so so sehr und umarme dich fest,
Deine Schwester, Armiger
Brief der PKK-Freiheitskämpferin Asya Alî:

AN MEINE FAMILIE
Ich kann mir vorstellen, dass die Neuigkeiten euch schockieren werden. Aber wenn ihr mich in unserer Zeit zusammen auch nur ein kleines bisschen verstanden habt, solltet ihr wissen, dass mein Beitritt zur Partei und mein Kampf danach nicht gewöhnlich sein würden, dass ich immer mehr wollen würde, dass ich immer die Beste sein wollen würde. Ich habe euch immer gesagt, dass ich es euch für den Rest meines Lebens vorwerfen würde, wenn ich der PKK nicht beitrete, dass ich nicht glücklich wäre und dass ich euch unglücklich machen würde. Weil ihr eure Liebe immer als ein Hindernis für mich dargestellt habt. Wahre Liebe, andererseits, setzt voraus, dass ein Raum geschaffen wird, wo euer geliebter Mensch frei leben kann. Ich will, dass ihr wisst, dass meine Liebe für euch ihre wahre Essenz erreicht hat, nachdem ich der PKK beigetreten bin.
Ihr müsst verstehen, dass die Mühen, die ihr euch um mich gemacht habt, vor allem eure Disziplin und eure Moral, mich dazu geführt haben, ein Leben der Freiheit zu wählen. Eurer würdig zu sein bedeutet für euch zu kämpfen. Wenn ihr mich wirklich so liebt, wie ihr immer gesagt habt, kämpft weiter. Leistet Widerstand gegen den Feind, nicht nur mit eurer Kraft sondern mit eurem ganzen Willen, und weint niemals um mich. Eurer Weinen demütigt mich, weil es mich nicht ehrt. Das wird euer erster Kampf mit dem Feind sein.
Ich werde euch um zwei Sachen bitte. Erstens, zieht meine Neffen mit ihrer eigenen Sprache, mit ihrer eigenen Identität groß. Sie sollen den Mangel, den ich gefühlt habe, nicht fühlen und sie sollen Rêbertî, die PKK, kennen. Zweitens, begrabt mich auf einem Friedhof der Şehîds, selbst wenn auch nur ein noch so kleines Bisschen von mir übrig bleibt. Ich kann nur bei meinen GenossInnen ruhig schlafen. Ihr verliert eine Tochter, aber ich habe hunderte GenossInnen verloren. Ich hoffe, ihr versteht mich.
Meine liebe Mutter, vergib mir, dass ich als deine einzige Tochter nicht dazu in der Lage war, viel Zeit mit dir zu verbringen und mich um dich zu kümmern. Ich war immer beruhigt bei dem Gedanken, dass mein Vater und meine Brüder sich um dich kümmern. Aber in der Partei habe ich mit meinen Genossinnen erkannt, dass das Bedürfnis von Frauen nach anderen Frauen, von Frauen nach Diskussionen mit Frauen von niemand anderem erfüllt werden kann. Wenn ich weiß, dass du all das, was du mit mir nicht aufbauen konntest, mit anderen Frauen um dich herum aufbauen kannst, wird das für mich das beste Geschenk sein.
So lange ihr euch an mich erinnert, werde ich mit euch sein, aber ihr müsst eine Haltung entsprechend meinem Kampf haben und euch daran erinnern, dass all meine GenossInnen eure Kinder sind. Ich bin genau so ein Kind tausender Familien von Şehîds. So weit, wie ihr mich versteht, bin ich mit euch.
Apoistische Grüße und Respekt
Asya Alî
11. November 2022
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