top of page

Was unsere Lieder uns erzählen

Thérèse Roanet

“Sag mir: Warum weinen die Menschen in deinem Land nicht, wenn sie Musik hören? Warum ist eure Musik so fröhlich, während unsere Mütter hier, im Şengal (1), Musik hören und dabei Tränen vergießen?”


“Weißt du, auch in Europa weinen wir manchmal, wenn wir Musik hören. Wenn wir uns schlecht fühlen, hören wir traurige Musik. Wenn die Welt uns grau erscheint, flüchten wir uns meistens in Liebeslieder mit schmerzvollem Ende oder Lieder über Angst. Aber hier ist es anders...” 


“Ja, weil unsere Klagen und Lieder die Schwere tragen von 74 Genoziden, die mein Volk erlitten hat.”


Wir stoppen einen Moment. Die flüsternde Melodie einer Kemençe verschmilzt mit dem Geräusch einer Brise aus den Şengali Bergen. Dieses Instrument ist eine Vorfahrin der Violine und wurde vor hunderten von Jahren in Mesopotamien geschaffen. Ihr melodisches Summen mischt sich mit dem dumpfen Grollen einer türkischen Drohne, die über uns hinwegfliegt. Diese Drohnen sind ein schlechtes Omen. Sie werfen Bomben ab und verbreiten Terror. Jeden Tag fliegen sie über das heilige Land der Êzidîs und setzen den vierundsiebzigsten Genozid auf diskrete Art und Weise fort (2). Der türkische Staat bombardiert in Rot mit seinen Raketen, er bombardiert in Weiß mit seinen Lügen und seiner Propaganda, er massakriert Körper und löscht Kulturen aus, die ihm im Weg stehen.


“- Wann hast du mit dem Singen angefangen?"


“Weißt du, seit ich klein bin hatte ich immer ein sehr enges Verhältnis zu meinem großen Bruder Hassan. Und weil wir nicht gerade in Geld geschwommen sind, sind wir gemeinsam Schafe hüten gegangen und dann haben wir gesungen.”

“Die Schäfer sind die besten Sänger. Vor ein paar Tagen war ich in den Bergen des Şengals, in ihren ausgedehnten, steinigen Weiten, habe den frischen Wind gespürt, der das Sengen der Sonne zerschneidet. Ich schaute auf die weiten Ebenen der Stadt Şengal und sah unten an ihrem Fuße klar, wie der alte Suq von den Bomben zerstört ist. Ich saß unter einem Felsvorsprung, der Boden war übersät von verschlissenen Stofffetzen. Ich stellte mir die Familien vor, die hier vor 10 Jahren auf der Flucht waren, Kinder, die in den Armen ihrer Mütter schreien, vor Durst. Eine Schafherde kam, der Schäfer sang ein Dengbêj und der Klang seiner Stimme breitete sich über den ganzen Berg aus, hell und deutlich. Ein Schauder lief mir durch den ganzen Körper.”


“Unsere Lieder sind so weitläufig und kraftvoll wie unsere Berge, in denen die Schäfer singen. Unsere Berge sind unser Zufluchtsort, und unsere Lieder sind der Zufluchtsort unserer Gesellschaft und ihrer Geschichte. Aber als der IS in 2014 kam, als die Peshmergas der PDK mit unseren Waffen davonrannte, mussten wir unser Land verlassen um den Massakern und dem Horror zu entfliehen. Das war ein langer Weg voller Leid. Die Guerillas der PKK, YPJ und YPG Kämpfer*innen kamen, um die Bevölkerung des Şengals zu befreien. Sie öffneten einen humanitären Korridor, der uns ermöglichte, in einem Flüchtlingscamp in Rojava unterzukommen. Dann führten sie einen unerschrockenen Kampf, der, dank dem immensen Mut der hunderten gefallenen Genoss*innen 2015 zur Befreiung des Şengals führte. Während dieser Zeit ist meine Familie in den Süden Kurdistans (Başûr) gegangen, wo wir zwei Jahre blieben. Wir hatten dort enge Beziehungen, die uns halfen und durch die wir Jobs finden konnten sodass wir unsere Bedürfnisse versorgen konnten. Wir machten Feldarbeit. Wir waren weit weg von unserem Haus, doch unsere Herzen waren immer im Şengal. Wir lebten in der Nähe von Suleymaniye, einer großen Stadt wo die europäische Kultur der Gesellschaft geschadet hat. Sie entfremdet uns von den Anderen um uns herum und von uns selbst. Und wenn ich sage “Europäische Kultur” – dann übergehe ich etwas wichtiges. Denn diese Kultur, die in den Mittleren Osten einfällt, die versucht, uns zu homogenisieren, das ist nicht die Kultur von Europa. Das ist die Kultur des Kapitalismus. Und dieser Kapitalismus zerstört auch eure Kulturen. Weißt du, auch ihr in Europa habt Genozide erlebt.”

“Ja, das stimmt. Und wenn wir über unsere Geschichte mehr lernen würden, könnte sich ein tiefergehender internationalistischer Kampf zusammen mit den Völkern, die unter den grausamen Angriffen der kapitalistischen Moderne leiden, entfalten. Übrigens, ich würde dir gerne die alte Geschichte meiner Vorfahren erzählen. Vor 800 Jahren breiteten sich zarathustrische Religionen vom Mittleren Osten bis nach Europa aus. In Okzitanien, meinem Land, wurden die Anhänger dieser Religion Katharer genannt. Ihr Glaube stand in engem Zusammenhang zur Natur und trug starke Werte wie Kollektivität und Asketismus, ähnlich wie bei Êzidîs. Auch hatten Frauen eine wichtige Rolle. Diese Werte und Überzeugungen sind mit dem Leben selbst verknüpft und gefährdeten deshalb die Herrschenden – weshalb diese die Religion der Katharer zerschlagen wollten. So sandte der Papst einen Kreuzzug um die Katharer zu massakrieren. Es gab immensen Widerstand. In Montségur wurden 200 Gläubige zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Ohne ihr Schicksal je zu leugnen, sangen sie, als der Scheiterhaufen unter ihnen entzündet wurde, und sie sangen bis zu ihrem letzten Atemzug. Nach diesem Genozid wurde mein Land von Frankreich eingenommen. Acht Jahrhunderte später zeugen weder Schriften, noch Bilder oder Objekte von dieser Katastrophe, fast nichts ist übrig von dieser Religion, sie wurde komplett ausgelöscht. Sogar unsere Sprache schwindet allmählich und geht verloren. Und dennoch wurden noch einige Lieder bewahrt, die für diese Zeiten Zeugnis ablegen. 


“Er ist großartig, dieser Gedanke: ein Lied ist stärker als eine Wehrburg. Ich selbst würde auch gerne Lieder schreiben, die auch in 1000 Jahren noch gesungen werden. Denn durch diese Lieder sind eure Katharer unsterblich geworden. Deren Werte, Überzeugungen und ihr Widerstand können nun immer weitergegeben werden.”


Langsam summe ich die Melodie, die tausend Jahre alt ist, und es ist, als ob wir durch die verschiedenen Zeitalter reisen, getragen vom Widerstand und der Moral all der Völker, die rebelliert haben. Meine Stimme wird leiser und verstummt langsam und wird dann abgelöst von seiner. War das ein Lied? War das ein Schrei? Seine Stimme befreit sich von seinem Brustkorb, eine erhabene Kraft die zwischen den Bergen nachhallt. 


 “Meine Freundin, der Berg des Şengals brennt im Nebel… Das ist ein sehr altes Lied, das von einem der vielen Genozide handelt, die unter osmanischer Herrschaft gegen die Êzidî verübt wurden. Ich habe es von einem Genossen der Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) gelernt, mit dem wir viel gesungen haben. Ich habe mich den YBŞ 2017 angeschlossen, als meine Familie und ich in den Şengal zurückgekommen sind. Zu dieser Zeit war die Region voller Leben, nach dem Sieg über den IS. Die demokratische Autonomieverwaltung, die seit 2015 im Şengal aufgebaut wurde, war dabei zu wachsen und viele verschiedene Kommunen und Räte entstanden. Ich hatte dann von YBŞ und YJŞ (den Fraueneinheiten Şengals) gehört, die aufgebaut wurden um die Selbstverteidigung der Bevölkerung zu garantieren, und ich entschloss mich dazu, mich ihnen anzuschließen. Zu dieser Zeit hatten die Guerillas der PKK den Şengal noch nicht verlassen und ich wurde zusammen mit ihnen zur Ausbildung geschickt. Wir entwickelten starke Genossenschaftlichkeit untereinander, die auf den Gedanken Rêber Apo basiert (4). Einer der Genossen, der einen großen Einfluss auf mich hatte, sang die ganze Zeit. Ich liebte es, ihm zuzuhören, und zusammen mit ihm zu singen, wenn wir auf Bereitschaft waren. Auf diese Weise wuchs meine Liebe zur Musik heran.

Auch die Beziehung zu meinem älterer Bruder Hassan, der im Ausschuss „Kultur und Kunst“ mitarbeitete, wurde enger. Er mochte meine Stimme und sagte mir, ich hätte viel Potenzial. Also wurde ich gebeten, dem Ausschuss beizutreten, und ich freute mich und trat bei. Dort lernte ich meine Kultur besser kennen. Mein älterer Bruder brachte vielen jungen Menschen aus Şengal das Singen bei. An seiner Seite habe ich große Fortschritte gemacht. Wir haben viel zusammen gearbeitet, haben auch alte Archive aus der Region gesammelt. Mein Bruder Hassan gründete die Gruppe Koma Çiyayê Şengalê, in der ich mitwirkte. Von Şengal bis Qandîl haben wir unsere Lieder bei verschiedenen Festen vorgetragen. Auch Musikclips über den Widerstand und die Autonomie von Şengal veröffentlichten wir.


Mein Bruder hat eine immense Arbeit geleistet, um unsere Kultur hier zum Leben zu erwecken. Er arbeitete unermüdlich, ohne Unterlass. Er war so vertieft in die Arbeit, dass er manchmal den ganzen Tag nichts aß und wenig schlief. So sehr, dass seine Gesundheit, besonders sein Magen darunter litt. Nach und nach bekam er große Schmerzen, er konnte nichts mehr essen, er war erschöpft. Eines Tages wurde er ohnmächtig. Ich reanimierte ihn und brachte ihn in das Krankenhaus von Mosul, wo er operiert wurde. In den nächsten zwei Jahren wurde er noch mehrmals operiert. Schließlich diagnostizierten die Ärzte bei ihm Krebs, der sich rasch ausbreitete. Am 23. März 2024 verabschiedete Hassan sich von seiner Familie und seinen Freunden und fiel so als Märtyrer.”


Die Sonne ist untergegangen. Ein Stern leuchtet hell am Himmel, ein Funkeln in den Augen meines Genossen. 


“Märtyrer sind diejenigen, deren Liebe zu ihrem Volk und zum Leben so groß ist, dass sie ihr ganzes Wesen ihrem revolutionären Werk verschrieben haben. Şehîd Hassan wird nie sterben, denn er hat unsere Gesellschaft entscheidend geprägt. Er wird nie sterben, weil wir seine unermüdlichen Bemühungen und Lieder weiterführen werden.”


1. Şengal befindet sich im Norden des Irak (in Südkurdistan). Es ist der zentrale Ort des Lebens für das Volk der Ezîdî. Im Jahr 2014 wurde in Şengal ein Völkermord durch Söldner des Islamischen Staates (ISIS) verübt.


2. Das Volk der Ezîden ist eine kurdischsprachige ethno-religiöse Gruppe, die ursprünglich aus Mesopotamien stammt. Sie sind bekannt dafür, dass sie einer alten Religion folgen: Êzdiyatî oder Ezidentum, und dass sie im Laufe ihrer Geschichte über 70 Völkermorde und Massaker erlitten haben.


3. Okzitanien bezieht sich auf das historische Gebiet, in dem die okzitanische Sprache gesprochen wird. Dazu gehören die südliche Hälfte des französischen Staates, das Arran-Tal im spanischen Staat und etwa zehn Täler in den italienischen Alpen.


4. Rêber Apo ist ein Name für den Volksführer Abdullah Öcalan, wobei Rêber Führer oder Anführer und Apo ein Kosename für Onkel ist.

 
 
 

コメント


bottom of page