Über die Notwendigkeit der ideologischen Klarheit in der Ökologiebewegung, von Abdullah Öcalan
Sammlung der Werke von Abdullah Öcalan (1)
Als ich an diesem Teil des Buches arbeitete, dachte ich viel an Enkidus Identität. Als ich versuchte, den Enkidu des Gilgamesch-Epos, der älteste bekannte Eops und der älteste unserer Geschichte, fiel mir auf, dass er eigentlich all diejenigen repräsentiert, die sich nach dem Staat und der Stadt sehnen. Als ich die Geschichte Enkidus mit meinem eigenen ersten Kontakt mit der Grundschule und der Stadt verglich, dauerte es nicht lang, bis ich realisierte, dass diese Geschichte auch meine eigene erzählte.
Lasst mich eine andere Begebenheit erzählen, die interessant sein könnte. Ich ermutigte die Kinder unseres Dorfes, in die Grundschule im Nachbardorf Cibin zu gehen. Unter diesen Kindern war ein Junge names Şevket, der kleine Bruder von Cumo, gegen den ich meine erste „Guerilla-Aktion“ durchführte. Seine Mutter war eine der ärmsten und ungebildetsten Frauen des Dorfs, aber was sie sagte, als Şevket das erste Mal zur Schule geschickt wurde, war buchstäblich einer Professorin würdig. Ich erinnere mich genau; in Kurdisch sagte sie: “Şevketê me buye hukûmet” (unser Şevket ist die Regierung geworden). Erst nachdem ich an diesen Verteidigungsschriften arbeitete, verstand ich, was sie meinte.
Jeder von uns war jetzt ein Enkidu, der überredet wurde, in die Stadt, also den Staat, zu laufen. Wir lösten uns von der mütterlichen Gesellschaft. Stück für Stück begannen wir, das Dorf zu verachten. Vor dem Hintergrund der Überlegenheit der Stadt verblasste das Dorf immer mehr. Unsere Mütter verloren zunehmend an Bedeutung. Wir begannen, unsere Bindung an Stamm und Familie zu verachten. Die Stadt und der in ihr verborgene Staat zogen uns an wie ein Magnet. Danach würde es nicht mehr leicht sein, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Die Stadt und der in ihr verborgene Staat fungierten objektiv gesehen als hervorragende Propagandawerkzeuge für sich selbst. Alles an der Stadt wurde als perfekt dargestellt. Die Stadt nutzte alles, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren, und wir verloren unser eigenes kleines Dorf völlig aus den Augen. Der einfachste Staatsbeamte war nun unsere neue Gottheit. Jedes seiner Worte und jedes Kleidungsstück, das er trug, stellte die neue Gottheit dar. Alles war auf Wirkung ausgelegt. Obendrein erhielten die Kurden den Beinamen „die mit den Schwänzen“. Das Rezept, um diesen Beinamen so schnell wie möglich loszuwerden, bestand darin, sich schnell zu urbanisieren, das heißt, Teil des Staates zu werden und türkisch zu werden. Wir begannen nicht nur unser Dorf und unsere Familie zu verachten, sondern auch unser Kurdischsein. Diese fühlten sich wie Fesseln an unseren Füßen an. Unsere ganze Welt entfaltete sich innerhalb dieses Dreiklangs: Je urbaner man wurde, desto mehr wurde man Teil des Staates, und je mehr man Teil des Staates wurde, desto türkischer war man, und je türkischer man war, desto größer waren die Aufstiegschancen. Das war unser neuer gesellschaftlicher Brauch. Religion und Wissen waren nur noch auf dieser Grundlage von Bedeutung. Für uns fand im Rahmen dieses Dreiklangs eine ganz neue Sozialisation statt.
Daraus schließe ich, dass Urbanisierung und Verstaatlichung Vorrang vor der Bildung von Klasse und Nation haben. Entgegen der populären Meinung war diese Identifikation mit der Stadt und dem Staat der grundlegendste und ursprünglichste Faktor der Vergesellschaftung. Proletarier oder Sozialist zu sein ist nichts mehr als ein Produkt dieser Verstädterung und Verinnerlichung des Staates, das den Attributen des Staatsgottes ähnelt. Die Soziologie hat die Formung der Persönlichkeit durch die Stadt und den Staat noch nicht vollständig analysiert. Die kommunale und ländliche Persönlichkeit und die städtische und staatsfixierte Persönlichkeit sind völlig unterschiedliche soziologische Phänomene. Ohne sie zu analysieren, kann keine Analyse von Klasse, Sozialismus und Demokratie jemals vollständig oder kohärent sein. Es gibt grundlegende Widersprüche und Unterschiede zwischen einer von Stadt und Staat geprägten Gesellschaft und einer ländlichen, kommunalen Gesellschaft.
Die ländliche Gesellschaft ist gemeinschaftlich, d.h. egalitär und demokratisch, d.h. in gleichem Maße frei, wie die von Stadt und Staat geprägte Gesellschaft statistisch und autoritär ist. In diesem Sinne besteht der wichtigste Widerspruch in der Geschichte zwischen der städtischen staatsorientierten Gesellschaft und der ländlichen kommunalen Gesellschaft, und der eigentliche Kampf findet zwischen dem städtischen staatsorientierten Autoritarismus und der ländlichen kommunalen Demokratie statt. Aber das habe ich erst viel später verstanden.
Die Wurzeln der Ökologischen Krise
Auch die Wurzeln der ökologischen Krise, die sich parallel zur Systemkrise verschärft, sollte man sinnvollerweise am Beginn der Zivilisation suchen. Man muss sich bewusst machen, dass die Entwicklung der Entfremdung zwischen den Menschen innerhalb der Gesellschaft, die durch die Herrschaft entsteht, auch eine Entfremdung zur Natur mit sich bringt. Beides ist eng miteinander verknüpft. Die Gesellschaft ist in ihrer Essenz ein ökologisches Phänomen. Ökologie meint hier die physikalische und biologische Natur, auf denen die Gesellschaft aufbaut.
Hierarchie und Staat können in der Entstehungsphase ihre Dauerhaftigkeit nicht nur durch Gewalt gewährleisten. Heuchelei und Lüge sind unverzichtbar, um zu verschleiern, was wirklich vor sich geht. Dominanz der Macht erfordert mentale Dominanz. Eine Mentalität, die Macht garantiert, muss nun aber eine sein, in der die Unwahrheit dominiert. Die rohe, gewalttätige Seite der Macht wird stets diese Art von Geist, die subtile Seite der Macht, lebendig halten und für ihre Dominanz sorgen. Die Entstehung dieser Art von Mentalität aber stellt auch die Grundlage für die Entfremdung von der Natur dar. Wenn die Gesellschaft das für sie lebenswichtige kommunale Band zerreißt und sich stattdessen in einer Art Verirrung sich auf die Hierarchie und den Staat stützt, dann kann das Band mit der Natur in Vergessenheit geraten und zur Bedeutungslosigkeit herabgewürdigt werden. Alles, was anschließend auf diesem Boden der Zivilisation errichtet wird, wird den Bruch mit der Natur nur noch vertiefen und sich als noch stärkere Umweltzerstörung niederschlagen. Die Mächte der Zivilisation werden natürliche Notwendigkeiten schließlich nicht mehr wahrnehmen. Denn schließlich liefert ihnen ja die Unterschicht alles, was sie zum Leben benötigen.
Die Renaissance bedeutet im Grunde nichts anderes, als das Band mit der Natur aufs Neue zu knüpfen. Die Renaissance entfaltete ihre geistige Revolution durch die Vitalität, Kreativität und Heiligkeit der Natur. Sie ging davon aus, dass alles, was ist, in der Natur ist. In der Kunst stellte sie die Schönheiten der Natur besser dar als zuvor. Durch eine wissenschaftliche Herangehensweise erweiterte sie die Grenzen der Natur. Indem sie den Menschen zum Maßstab machte, definierte sie die Erkenntnis der Wahrheit als Ziel von Wissenschaft und Kunst. Die Neuzeit ist das Ergebnis dieses Umschwungs im Denken. Entgegen der landläufigen Meinung ist der Kapitalismus nicht das natürliche Ergebnis dieses Prozesses, sondern er wirkte verzerrend und als Rückschritt. Parallel zur Ausbeutung der Menschen organisierte er die Ausbeutung der Natur. Er vereinigte die Herrschaft über den Menschen mit der Herrschaft über die Natur. Er startete gegen die Natur den massivsten Angriff aller Zeiten. Und er begriff es als seine revolutionäre Aufgabe, die Natur auszubeuten, ohne auch nur einen Gedanken an ihre Heiligkeit, ihre Vitalität und ihr Gleichgewicht zu verlieren. Die Heiligkeit die in den vorausgegangenen Denksystemen zumindest in verzerrter Weise vorhanden war, ließ er völlig außen vor. Er nahm sich das Recht heraus, völlig sorglos über die Natur zu verfügen.
Schließlich verband sich die gesellschaftliche Krise mit der Krise der Umwelt. So wie das System die gesellschaftliche Krise in das Chaosintervall geführt hat, so hat auch die Umwelt begonnen, in Form von lebensbedrohenden Katastrophen SOS-Signale auszusenden. Krebsartig wuchernde Städte, verschmutzte Luft, die durchlöcherte Ozonschicht, das rapide beschleunigte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, die Zerstörung der Wälder, die Verschmutzung der Gewässer durch Abfälle, sich auftürmende Müllberge und das unnatürliche Bevölkerungswachstum haben die Umwelt ins Chaos und zum Aufstand getrieben. Es geht nur um den maximalen Profit, ohne Rücksicht darauf, wie viele Städte, Menschen, Fabriken, Verkehrsmittel, synthetische Stoffe, verschmutzte Luft und verschmutztes Wasser unser Planet verkraften kann. Diese negative Entwicklung ist kein Schicksal. Sie ist das Ergebnis eines unausgewogenen Gebrauchs von Wissenschaft und Technik in der Hand der Macht. Es wäre falsch, Wissenschaft und Technik für diesen Prozess verantwortlich machen zu wollen. Wissenschaft und Technik für sich genommen tragen keine Schuld. Sie funktionieren entsprechend den Kräften des gesellschaftlichen Systems. Genauso, wie sie die Natur vernichten können, können sie sie auch heilen. Das Problem ist ausschließlich ein gesellschaftliches.
Kein Gesellschaftssystem, das nicht im Einklang mit der Natur steht, kann für sich Rationalität und Moralität beanspruchen. Daher wird das System, das am meisten im Widerspruch zur Natur steht, auch im Hinblick auf Rationalität und Moralität überwunden werden. Wie schon aus dieser kurzen Definition des Widerspruchs zwischen dem kapitalistischen Gesellschaftssystem und seinem jetzigen chaotischen Zustand und der katastrophalen Umweltzerstörung hervorgeht, handelt es sich um eine dialektische Beziehung. Der grundsätzliche Widerspruch zur Natur kann nur durch eine Abkehr vom System überwunden werden. Alleine durch Umweltschutzbewegungen kann er nicht gelöst werden. Auf der anderen Seite erfordert eine ökologische Gesellschaft auch eine moralische Wende. Das Amoralische am Kapitalismus kann man nur durch eine ökologische Vorgehensweise überwinden. Der Zusammenhang von Moral und Gewissen verlangt nach einer empathischen und sympathischen Spiritualität. Das wiederum ist nur sinnvoll, wenn es auf ökologischer Kompetenz beruht. Ökologie bedeutet Freundschaft mit der Natur, Glaube an die natürliche Religion. Insofern steht die Ökologie für einen erneuten, bewussten und aufgeklärten Zusammenschluss zu einer natürlichen, organischen Gesellschaft.
Aufbauend auf unseren vorherigen Ausführungen können wir festhalten, dass extremes Wachstum der Bevölkerung und der Städte, die Schwung aufgenommen haben, seit Stadt und Mittelklasse das Machtzentrum bilden, nichts sind, was die Umwelt aushalten kann. Auch die gesellschaftliche Natur kann sie nicht aushalten. Macht und Staat, die im Zuge des Kapitalakkumulationsprozesses anwuchsen, haben einen Umfang und ein Gewicht erreicht, die keine Balance von Gesellschaft und Umwelt ertragen kann. Dass Umweltkrise und gesellschaftliche Krisen zusammenlaufen und permanent werden, hängt mit dem monopolistischen Wachstum in beiden Bereichen zusammen. Beide Krisensysteme speisen einander. In der Wissenschaft ist man sich mittlerweile einig, dass der Zusammenbruch unaufhaltsame Dimensionen annehmen wird, sollte diese Spirale sich noch weitere fünfzig Jahre fortsetzen. Doch wegen ihres blinden und zerstörerischen Charakters sehen und hören die Kapital- und Machtmonopole dies nicht; das liegt in ihrem Wesen.
Eins mit der Natur zu sein heißt, bei einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaft anzukommen
Auch die praktischen Probleme einer ökologischen Lebensweise sind durchaus aktuell. Zu den Aufgaben der Aktivisten gehört es, die vielen bereits bestehenden Organisationen in jeder Hinsicht zu erweitern und zum integralen Bestandteil der demokratischen Gesellschaft zu machen. Dazu gehört ebenso die Solidarität mit der feministischen und der freiheitlichen Frauenbewegung. Eine der wichtigsten Aktivitäten bei der Demokratisie rung ist die Förderung und Organisierung des Umweltbewusstseins. So wie es einmal ein ausgeprägtes Klassen- oder Nationalbewusstsein gab, so müssen wir durch intensive Kampagnen ein Bewusstsein für Demokratie und Umwelt schaffen. Ob es sich um die Rechte der Tiere, den Schutz der Wälder oder die Wiederaufforstung handelt– solche Aktionen sind, wenn sie richtig durchgeführt werden, unverzichtbares Element eines ge sellschaftlichen Aktionismus. Denn Menschen, die kein Empfinden für das Biologische haben, können nur ein gestörtes gesellschaftliches Empfinden besitzen. Wer die Beziehung zwischen beidem wahrnimmt, kann wahr und mit allen Sinnen empfinden.
Eine Bewegung für Demokratie und die Befreiung der Geschlechter wäre nicht anders als der patriarchale Rest der Welt, wenn sie sich nicht zumindest auf eine große Bewegung für die Wiederaufforstung und den Schutz des Bodens vor Erosion gründete. Eine Ökologiebewegung gehört zu den unverzichtbaren Bestandteilen der neuen Gesellschaft, die wir errichten wollen. Ökologie ist nicht nur Ökonomie. Es ist eine Geisteshaltung, die Rückkehr zu einem verlorenen Naturverständnis von Lebendigkeit und Heiligkeit. Ein Leben ohne das Bewusstsein von einer Natur, die quicklebendig ist, mit uns spricht, mit uns lebt und durch die wir leben, ein Leben also auf einem Boden, der schwarz wie der Tod ist und alle Heiligkeit eingebüßt hat, ist kaum lebenswert. Umweltbewusstsein darf sich nicht nur auf schmutziges Wasser oder verdreckte Luft beziehen. Es bedeutet, ganz mit der Natur zu leben, die Rückkehr von einer parzellierten zu einer ganzheitlichen Natur. Auch das bedeutet eine demokratische und sozialistische Gesellschaft, beides hängt eng miteinander zusammen. Es bedeutet Respekt vor der Kette der Evolution, die auch den Menschen hervorgebracht hat.
Die noch vergleichsweise junge Geschichte der Umweltwissenschaft und -bewegung entwickelt sich schnell weiter. Wie bei der Frau, so gilt auch für die Umwelt: Mit der Wissenschaft entwickelt sich Bewusstsein, mit dem Bewusstsein entwickelt sich Bewegung. Die Umweltpolitik ist der Bereich mit der breitesten zivilgesellschaftlichen Bewegung. Mittlerweile zieht er auch Realsozialist*innen und Anarchist*innen an. Es ist diejenige Bewegung, deren Systemgegnerschaft am meisten zu spüren ist. Da sie die gesamte Gesellschaft angeht, hat die Beteiligung eine klassenübergreifende und transnationale Qualität erreicht. Auch in der ökologischen Bewegung finden sich deutliche Spuren der liberalen ideologischen Hegemonie. Wie bei allen gesellschaftlichen Themen ignoriert der Liberalismus auch im ökologischen Bereich den strukturellen Kern des Problems und bemüht sich, Technologien, fossile Brennstoffe und die Konsumgesellschaft als verantwortlich darzustellen. Dabei sind all diese Nebenphänomene Produkte des eigenen Systems (bzw. der Systemlosigkeit) der Moderne. Daher braucht die ökologistische Bewegung genau wie die feministische Bewegung dringend ideologische Klarheit. Diese Bewegung muss ihre Organisation und ihre Aktionen aus den engen Straßen der Städte heraus in die gesamte Gesellschaft, insbesondere in die dörflich-agrarische Gesellschaft auf dem Land verlegen. Die Ökologie ist im Grunde der Aktionsleitfaden des Landes, der dörflich-agrarischen Gesellschaft, aller Nomad*innen, der Arbeitslosen, der Frauen.
Diese Tatsachen, die auch die Grundlage der demokratischen Moderne bilden, zeigen ganz klar, welch bedeutende Rolle die Ökologie in den Wiederaufbauarbeiten spielen wird.
(1) Dieser Text wurde zusammengestellt aus Ausschnitten der Bücher “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” (Bir Halkı Savunmak, 2004) und “Die Soziologie der Freiheit: Manifest der Demokratischen Zivilisation, Band 3“ (Özgürlük Sosyolojisi, 2009) geschrieben von Abdullah Öcalan
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